Hat ein Bauunternehmer im Jahr 2012 Bauleistungen an einen Bauträger erbracht und dabei auf der Grundlage der damaligen Verwaltungsauffassung keine Umsatzsteuer ausgewiesen, weil der Bauträger die Umsatzsteuer vermeintlich schuldete (sog. Reverse-Charge-Verfahren), darf das Finanzamt die Umsatzsteuer des Bauunternehmers trotz der nachteiligen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), der die Verwaltungsauffassung als rechtswidrig eingestuft hat, wegen des gesetzlichen Vertrauensschutzes nicht mehr zu seinen Ungunsten ändern. Der Vertrauensschutz greift, wenn der Unternehmer bei der Abgabe seiner Umsatzsteuervoranmeldungen für 2012 die damals gültige Verwaltungsauffassung berücksichtigt und das Finanzamt die Umsatzsteuervoranmeldungen nicht beanstandet hat.
Hintergrund: Bei Bauleistungen unter Unternehmern gilt grundsätzlich das sog. Reverse-Charge-Verfahren, d.h. Umsatzsteuerschuldner ist der Leistungsempfänger (Auftraggeber). Nach Auffassung der Finanzverwaltung galt dies auch bei Bauleistungen an einen Bauträger, der unbebaute Grundstücke bebaut und anschließend verkauft. Im Jahr 2013 entschied der BFH jedoch, dass bei Bauleistungen an einen Bauträger das Reverse-Charge-Verfahren nicht gilt, weil der Bauträger selbst keine Bauleistungen erbringt, sondern nur Grundstücke verkauft. Daraufhin beantragten viele Bauträger die Erstattung der von ihnen zu Unrecht entrichteten Umsatzsteuer, und die Finanzämter versuchten, die Umsatzsteuer nun von den Bauunternehmern zu erhalten. Der Gesetzgeber hat in der Folgezeit versucht, eine Rückabwicklung dieser Fälle zu ermöglichen.
Sachverhalt: Die Klägerin war Organträgerin einer GmbH, die im Baubereich tätig war; die Klägerin war als Organträgerin Umsatzsteuerschuldnerin der von der GmbH ausgeführten Umsätze. Die GmbH hatte im Jahr 2012 Bauleistungen an einen Bauträger erbracht. Die GmbH ging ebenso wie der Bauträger auf der Grundlage der Verwaltungsauffassung davon aus, dass der Bauträger die Umsatzsteuer nach dem Reverse-Charge-Verfahren schuldet. Dementsprechend meldete die Klägerin als Organträgerin in ihren Umsatzsteuervoranmeldungen für 2012 keine Umsatzsteuer an. Im Jahr 2013 wurde über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet. Im Jahr 2013 stufte der BFH die Verwaltungsauffassung zur Umsatzsteuerschuldnerschaft von Bauträgern als rechtswidrig ein und verneinte deren Steuerschuldnerschaft. Im April 2014 gab die Klägerin ihre Umsatzsteuerjahreserklärung für 2012 ab und ging wie bereits bei den Voranmeldungen von der Umsatzsteuerschuldnerschaft des Bauträgers aus. Der Bauträger beantragte 2015 die Erstattung seiner Umsatzsteuer bezüglich der von der GmbH erbrachten Bauleistungen. Daraufhin erhöhte das Finanzamt nun die Umsatzsteuer der Klägerin für 2012 entsprechend, indem sie Umsatzsteuer auf die von der GmbH erbrachten Bauleistungen festsetzte.
Entscheidung: Der Bundesfinanzhof (BFH) gab der hiergegen gerichteten Klage statt:
- Zwar stand die Umsatzsteuerfestsetzung für 2012 kraft Gesetzes unter einem Vorbehalt der Nachprüfung, da es sich bei der Umsatzsteuererklärung um eine sog. Steueranmeldung handelt, die wie eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung behandelt wird. An sich hätte daher die Umsatzsteuerfestsetzung aufgrund des Vorbehalts der Nachprüfung zuungunsten der Klägerin geändert werden müssen.
- Die Änderung war jedoch wegen des gesetzlichen Vertrauensschutzes nicht möglich. Danach darf ein Steuerbescheid nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen mit der Begründung geändert werden, dass der BFH eine allgemeine Verwaltungsvorschrift als rechtswidrig eingestuft hat. Die Klägerin, die sich auf die Verwaltungsauffassung gestützt hat, genießt daher Vertrauen auf den Bestand der bisherigen Steuerfestsetzung.
- Zwar war bei Abgabe der Umsatzsteuerjahreserklärung für 2012 im April 2014 die neue BFH-Rechtsprechung schon veröffentlicht, so dass deshalb das Vertrauen der Klägerin zu verneinen sein könnte. Jedoch ist zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen, dass sie im Jahr 2012 bereits monatliche Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hatte, die ebenfalls als Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen und deshalb ebenfalls vom Vertrauensschutz erfasst werden.
Hinweise: Das Urteil ist für Bauunternehmer, die bis zur Änderung der BFH-Rechtsprechung im Jahr 2013 Bauleistungen an Bauträger erbracht haben und die auf die Anwendung des sog. Reverse-Charge-Verfahrens vertraut haben, vorteilhaft.
Allerdings hat der Gesetzgeber in einer weiteren Änderungsvorschrift, die er nachträglich, d.h. nach der Rechtsprechungsänderung eingefügt hat, den gesetzlichen Vertrauensschutz ausdrücklich ausgeschlossen. Das Finanzamt hätte sich daher auf diese weitere Änderungsvorschrift stützen können. Jedoch hat der BFH den Anwendungsbereich dieser weiteren Änderungsvorschrift bereits vor wenigen Jahren eingeschränkt. Die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung ist danach nur zulässig, wenn dem Unternehmer ein abtretbarer Anspruch auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer gegen den Bauträger zusteht. Diese Voraussetzung war im Streitfall nicht erfüllt, weil die Klägerin als Organträgerin keinen Anspruch der GmbH gegen den Bauträger an das Finanzamt abtreten konnte. Die GmbH war nämlich insolvent; es war daher nicht anzunehmen, dass der Insolvenzverwalter der GmbH einen werthaltigen Anspruch der GmbH gegen den Bauträger auf Zahlung der in Rechnung gestellten Umsatzsteuer dadurch aufgibt, dass er diesen Anspruch an das Finanzamt abtritt.
Quelle: BFH, Urteil vom 6.7.2023 – V R 5/21; NWB